"Du glaubst nicht, was das Schwein heute gemacht hat", erzählt mir meine 65-jährige Mutter am Telefon, während ich mich verwirrt am Kopf kratze und frage über welches Schwein sie da gerade redet. "Das erzählt allen Bewohnern, was für ein toller Star es sei. Also ich habe noch nie von dem gehört. So vergrault er mir doch alle Bewohner!"
Solche Telefonate führe ich mit meiner Mutter häufiger und ich liebe jede Sekunde davon. Nicht nur, da sie einen riesigen Spaß mit Animal Crossing: New Horizons hat, sondern auch, weil unsere Gespräche vor ein paar Monaten noch anders aussahen.
Falls ihr euch über die Qualität der Screenshots wundert. Die fotografiert meine Mutter mit ihrem Handy selbst ab. Wie sie Bilder auf der Switch macht, diese auf ihr Smartphone überträgt und per Mail schickt war dann doch etwas viel.
Wenn wir noch einmal über's Wetter reden, schreie ich!
2019 war die Welt für meine Mutter und mich noch eine ganz andere. Wir besuchten uns eigentlich regelmäßig, schauten gemeinsam Filme, spielten Brettspiele und kochten zusammen. Ansonsten telefonierten wir mindestens zweimal die Woche.
Dann kam der erste Lockdown. Meine Mutter ist Risikopatientin, die auf eine Sauerstoffflasche angewiesen ist. Daher nehmen wir das Infektionsrisiko und den Lockdown sehr ernst. So saßen wir also zu Hause, versuchten aber wenigstens unsere Telefonate aufrecht zu erhalten. Leider ging uns unerwartet schnell der Gesprächsstoff aus. Netflix war irgendwann leer geschaut, und ich hatte das Gefühl, wenn wir noch einmal über das Wetter sprechen, fange ich an zu schreien. Außerdem merkte ich, wie meiner Mutter die ständige Isolation, ohne ihre Freundinnen, Busreisen oder Tagesausflüge, stark zusetzte.
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Stephan und seine Mutter spielen eigentlich schon seit den 90ern zusammen Videospiele. Sie begleitete ihn als Zuschauer bei zahlreichen SNES-Spielen, wie Zelda, Terranigma, oder Harvest Moon. Auch bei seinem ersten "ab 18"-Spiel saß sie neben ihm und feuerte ihn bei Max Payne an. Nun greift sie erstmals selbst zum Controller.
Animal Crossing als sicherer Ausflugsort
Vor dem zweiten Lockdown kam meiner Frau eine Idee. Wir kauften meiner Mutter eine Switch samt Animal Crossing: New Horizions. Über Videotelefonie richteten wir zusammen die Konsole ein und ihr folgenreiches Abenteuer auf Joy Island (benannt nach einer ihrer Katzen) nahm ihren Lauf.
Urlaub für die Seele: Für sie ist die kleine heile Inselwelt der perfekte Rückzugsort, an dem sie nicht von Hiobsbotschaften über den Virus belästigt wird. Der Einstieg war für sie kein Problem, da das Spiel so intuitiv zu sein scheint, dass sich viele Dinge erklären, ohne je ein Videospiel in der Hand gehabt zu haben. Falls sie doch mal eine Frage hat, ruft sie an, und wir reden dann gerne einmal eine Stunde über das Inselleben. Neuerdings setzt sie sich kleine Projekte, wie beispielsweise ein asiatisches Teehaus.
Sie hat sogar angefangen, Youtube-Tutorials zu schauen: "Ich wünschte nur, die würden mal zum Punkt kommen mit ihrem Tutorial und nicht so viel rumquatschen!" Ich glaube, das haben wir alle schon gefühlt, Mama!
Ich wünschte, ich könnte so spielen
Am liebsten höre ich ihr zu, wenn meine Mutter über ihre Bewohner spricht. Sie behandelt sie häufig wie lebendige Persönlichkeiten. Wenn ihr ein Bewohner erzählt, dass er irgendwas Cooles gesehen hat, dann geht sie sofort los, durchstöbert die Insel und versucht es auch zu finden - irgendwas muss da doch sein. Sie besucht regelmäßig alle Bewohner, damit sie nicht traurig sind. Und wenn einer ausziehen möchte, dann fragt sie sich, was sie falsch gemacht hat.
Ich beneide sie um diese Herangehensweise. Nach all den Jahren des Zockens sehe ich die meisten Charaktere nur noch als seelenlose NPCs, die nur für die Illusion da sind, das Spiel "lebendiger" zu machen. Es erinnert mich an meine gute alte SNES-Zeit, in der ich auch noch jedem Charakter mehr Bedeutung zugestand und sie nicht als bloßes Mittel zum Zweck sah. Ironischerweise saß meine Mutter dann häufig neben mir, während meiner Abenteuer in Harvest Moon, Zelda oder Terranigma.
Weniger Sorgen und mehr Nähe
Es ist schwer für mich, meine Mutter nicht so oft besuchen zu können und manchmal machte ich mir wirklich Sorgen, dass sie die Einsamkeit langsam zermürben könnte. Doch mit dieser kleinen, gemeinsamen Reise, die wir dank Animal Crossing unternehmen, fühle ich mich ihr trotz der Entfernung wieder eine ganze Ecke näher. Und ich bin froh, dass ihr gerade eine kleine Gruppe sprechender Tiere Gesellschaft leistet, solange ich das nicht kann.
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