Vor einiger Zeit hat Jeff Kaplan, Game Director von Overwatch, der nie angekündigten aber dennoch heiß erwarteten Singleplayer-Kampagne des Team-Shooters eine endgültige Absage erteilt. Dies wäre viel zu aufwändig und würde im Grunde bedeuten, ein vollkommen neues Spiel auf die Beine zu stellen, so Kaplan.
Zwar bekommen wir immer wieder neue Helden und Spielmodi geboten, doch eine klassische Singleplayer-Erfahrung wird Overwatch wohl nie bekommen. Auch das neue PvE-Event "Insurrection" erfüllt wohl kaum die Sehnsüchte nach einem Story-Modus. Und trotzdem kostet das Spiel (wenn nicht gerade ein Sale ist) weiterhin 69,99 Euro im PlayStation Store.
Die Hälfte zum vollen Preis?
Mit Overwatch und dem Sprung in ein neues Genre hat Blizzard einen Erfolg gelandet, der sich auch finanziell auszahlt. Der Team-Shooter begeisterte schon während der Open Beta über 8 Millionen Spieler und mittlerweile haben mehr als 25 Millionen Spieler zum Shooter gegriffen. Dennoch lassen sich auch Stimmen finden, die Blizzard vorwerfen, ein Konzept zum Vollpreis anzubieten, das sein Geld letztlich nicht wert ist. Die fehlende Singleplayer-Kampagne mache ja schließlich deutlich, dass Overwatch nur "ein halbes Spiel" sei und daher auf den Konsolen auch nicht 69,99 Euro kosten sollte.
Dabei ist Overwatch bei Weitem nicht der erste Fall, in dem großangelegte Shooter ohne die klassische Singleplayer-Kampagne angeboten werden. Schon bei Star Wars: Battlefront, Evolve oder Titanfall wurde bemängelt, dass der fehlende Einzelspielermodus zu wenig Content bedeutet, die bei der unverbindlichen Preisempfehlung berücksichtigt werden müsste. Inzwischen geben viele Entwickler dem Druck der Spielerschaft nach und Spiele wie Titanfall 2 und Star Wars: Battlefront 2 warten mit klassischeren Kampagnen auf. Doch wo kommt diese Einstellung gegenüber Multiplayer-Titeln eigentlich her?
Spielspaß einfach selbstgemacht
Der Multiplayer-Modus war über Jahre hinweg nur die Ergänzung zum eigentlichen Spiel, der uns noch einmal mit den Spielmechaniken herumalbern lässt, wenn die Credits über den Bildschirm geflimmert sind. Selbst beim Platzhirsch Call of Duty hat sich der Multiplayer erst nach und nach zum Kernaspekt der Reihe entwickelt. Was dabei vergessen wird, ist die Tatsache, dass der Multiplayer von 2002 nicht mit dem Multiplayer von 2017 zu vergleichen ist. Er hat andere Ansprüche und längst einen Selbstzweck entwickelt, der mehr als genug Spieltiefe bietet. Sofern wir bereit sind, uns darauf einzulassen.
Der ehemals nette Zeitvertreib ist heute meist vollkommen vom Einzelspieler abgekoppelt, legt viel Wert auf Balance, ermöglicht mehrere Spielstile sowie Strategien und ist darauf ausgelegt, uns über Wochen und Monate hinweg an den eigenen Fertigkeiten schrauben zu lassen. Und offenbar scheiden sich hier die Geister, denn "Inhalt" ist nicht für jeden Spieler gleich definiert. Wo Singleplayer-Kampagnen einen vordefinierten Spannungsbogen bieten und uns durch zahllose Level führen, die mit dem passenden Pacing ausgestattet sind, müssen wir unseren Spaß in Multiplayer-Spielen selbst erwirtschaften.
Spiele wie Overwatch erfordern die aktive Auseinandersetzung mit den Fähigkeiten der unterschiedlichen Helden und der Architektur der Maps. Das dient aber nicht nur dazu, um unseren Favoriten unter den 24 Charakteren ausfindig zu machen, sondern auch, um zu lernen, wie wir auf die Fertigkeiten der restlichen Helden reagieren können. Die Wechselwirkungen zwischen den Helden sind komplex und bieten ausreichend Möglichkeiten, neue Herangehensweisen an die immergleichen Spielmodi zu finden. Wer diesen Aufwand aber scheut und nicht erkennt, welches Potenzial im eigenen Können versteckt ist, sieht nur sich ähnelnde Spielverläufe, die sich schon nach wenigen Matches erschöpfen.
Das Argument, dass der Aufwand für Entwickler geringer ist, wenn sie an reinen Multiplayer-Titeln arbeiten, fußt auf der Annahme, dass Balance leicht zu meistern ist. Was Blizzard bei Overwatch möglicherweise an Zeit und Ressourcen gespart hat, indem sie auf eine Singleplayer-Kampagne verzichten, fließt direkt in die Ausdifferenzierung der einzelnen Charaktere. Damit jeder Spieler dieselben Möglichkeiten geboten bekommt, muss auch jeder Charakter die Möglichkeiten haben, auf den Spielverlauf einzuwirken. Die nötige Infrastruktur, die für einen weltweiten Multiplayer-Titel essenziell ist, ist ebenfalls kostspielig.
Die Zeiten ändern sich
Die Abwehrhaltung gegenüber Multiplayer-Spielen und das Festhalten an der klassischen Singleplayer-Erfahrung erwachsen aus dem Vorurteil, dass Mehrspieler-Modi nur eine liebgemeinte Ergänzung sind, die das eigentliche Spiel aber verwässern. Im Zuge der Free to Play-Welle, die Multiplayer-Hits wie League of Legends und zahllose MMORPGs hervorgebracht hat, wurde vielen außenstehenden Spielern suggeriert, reine Multiplayer-Titel könnten sich auch mit kostenlosem Zugang finanzieren, solange die Möglichkeit für Mikrotransaktionen besteht.
Vorbehalte gegen Multiplayer-Titel weil sie angeblich leer und oberflächlich sind, sind antiquiert und schon seit Jahren nicht mehr zeitgemäß. Auch wenn ich mir wünschen würde, dass Overwatch etwas mehr mit den Hintergrundgeschichten der einzelnen Helden anfangen würde, ist der Preis für den Shooter absolut gerechtfertigt und steht in Sachen Inhalt und Spieltiefe der klassischen Konkurrenz á la Horizon Zero Dawn in Nichts nach. Es ist eben doch alles nur eine Frage der Perspektive.
Dieser Artikel erschien zuerst am 08. Juni 2016 unter dem Titel "Ja, auch reine Multiplayer-Titel dürfen 70 Euro kosten" auf gamespilot.de und wurde für die Neuveröffentlichung geupdated.
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