Achtung! Dieser Artikel behandelt Themen wie sexuelle Übergriffe und Missbrauch.
Außerdem enthält der Artikel leichte Spoiler zu NieR: Replicant.
Achievements und Trophäen haben Videospiele verändert. Seit über 15 Jahren spornen sie uns an, auch bei den längsten Spielen bis zum Ende dranzubleiben, um noch den letzten Stein umzudrehen oder die schwierigsten Gefechte zu meistern. Alles, um am Ende mit einem möglichst hohen Gamerscore oder einer üppigen Sammlung an Platin-Trophäen zufrieden dastehen zu können. Wer gerne gezielt auf die Jagd nach ihnen geht, stößt aber zwangsläufig auf Titel, die ihre virtuellen Belohnungen an fragwürdige Herausforderungen binden.
Intersexualität gehört nicht versteckt
Das jüngste Beispiel dafür ist NieR: Replicant, das Remake des ersten NieR. Erst dieses Jahr fällt es negativ durch einen Erfolg namens "Draufgänger" auf. Dafür müssen wir "zehnmal Kopf und Kragen riskieren, um jemandes Geheimnis zu lüften." Konkret verlangt das Spiel, Protagonistin Kainé zehnmal zwischen die Beine zu schauen.
Öffentliche Kritik daran folgt schon vor der Veröffentlichung. "Draufgänger" sei unnötig und respektlos. Der Grund: Kainé ist intersexuell. Sie hat einen weiblich gelesenen Körper und männlich gelesene Genitalien.
"Der Achievementtext zeichnet Kainés Körper als etwas, das versteckt werden muss, und negiert einen Großteil ihrer Entwicklungen, die sie zu einer Figur machen, um deren Schicksal man sich kümmert", ärgert sich Journalistin Jade King.
Und es stimmt. Die Bewohner*innen von Kainés Dorf, die Aerie, beleidigen sie für ihren Körper, unter anderem als Freak, und misshandeln sie körperlich. Kainé verlässt deshalb die Aerie; kehrt meist nur so widerwillig wie ängstlich zurück, um für ihre schwächelnde Adoptivgroßmutter einzukaufen.
Das daraus entstandene Trauma, dessen Verarbeitung und die über den Storyverlauf steigende Selbstakzeptanz sind zentral für Kainés Charakter. Sie fließen außerdem in eine der großen Fragen von NieR (Replicant) ein: Entscheidet der Körper über Identität und das Menschsein? So zwingt das Achievement Spieler*innen zu einer Handlung, die in jeder Weise in Konflikt mit den Botschaften des Titels steht.
Ein Problem mit Tradition
Schon vor "Draufgänger" sorgt ein anstößiges Achievement in der Nier-Reihe für Negativschlagzeilen. NieR: Automata, das vier Jahre zuvor erschien, fordert mit dem Erfolg "Was machst du da?" Spieler*innen auf, zehnmal unter den Rock der Protagonistin - dieses Mal die Androidin 2B - zu schauen.
Im Gegensatz zu Replicant kollidiert die Trophäe nicht mit 2Bs Charakter oder den Motiven der Handlung, weil sie sich nicht mit Geschlechtsidentitäten auseinandersetzt. Dafür leidet sie an einem anderen Problem, das auch auf Replicant zutrifft.
Die Erfolge objektifizieren Kainé und 2B. Sie werden auf ihre Körper reduziert, da Belohnungen winken, wenn man sie nur häufig genug offensiv anstarrt. Zudem vermitteln sie, sich Frauen aufzudrängen sei generell belohnenswert, gerade wenn sie sich wehren. Denn Kainé und 2B schieben die Kamera, und damit die Spieler*innen, nach jedem erfolgreichen Versuch sichtlich gestört weg.
Auf Brüste zu starren wird belohnt
NieR: Automata und Replicant sind nicht die einzigen Spiele, die Frauen via Trophäen objektifizieren. Sie sind auch nicht die ersten. Das 2012 erschienene Asura's Wrath bietet die Trophäe "Blick aufs Tal", wenn wir lang genug auf die Brüste einer der Bediensteten starren.
Schalten wir das Achievement frei, informiert uns dessen Beschreibung in der deutschen Version nüchtern, dass wir dafür eine Bedienstete mehrfach anstarren müssen. Anders sieht es in der englischen Fassung aus. "Gib dich deinen männlichen Instinkten hin", heißt es dort.
Problematisch ist das aus zwei Gründen. Grundsätzlich scheint es, als bezeichne das Achievement alle Männer fälschlicherweise als triebgesteuert. Wichtiger ist aber: Der Text impliziert, übergriffiges Verhalten sei eine männliche Veranlagung. Das verharmlost die bewussten Taten von übergriffigen Männern im Alltag.
Was wie eine unverhältnismäßig scharfe Kritik für ein Achievement klingt, ist die Basis für ein sehr reales Problem: Rape Culture. Wollen Frauen nicht objektifiziert - oder im Schlimmstfall missbraucht - werden, sollen sie sich nicht freizügig kleiden, so das geläufige Argument. Vorzubeugen, das sei ihre Aufgabe. Dass aber selbst nicht-freizügige Kleidung keinen Schutz vor sexualisierter Gewalt bietet, ist längst belegt.
Digitaler Voyeurismus, verpackt als Versehen
Noch im selben Jahr belohnt Lollipop Chainsaw seine Spieler*innen ebenfalls für digitalen Voyeurismus. Das Spiel verspricht 10 Gamerscore oder eine Bronze-Trophäe für einen Blick auf die Unterwäsche der Kettensägen schwingenden Cheerleaderin und Heldin Juliet Starling. Der Name des Erfolgs: "Ehrlich, es war ein Versehen!" Ein Versuch also, den Kameraschwenk zwischen Juliets Beine als Ausrutscher zu bezeichnen.
Theoretisch ist das plausibel. "Nur" ein Blick genügt, er könnte versehentlich passieren. Der Name wirkt aber verharmlosend und schuldabweisend. Frei nach dem Motto: "Hab' dich doch nicht so, es war ja nicht so gemeint." Und wie schon in NieR: Automata und Replicant ist auch hier das grundsätzliche Problem, Spieler*innen überhaupt dafür zu belohnen - egal wie häufig man nun unter einen Rock schauen muss.
Die Liste der Beispiele könnte noch weitergeführt werden. God of War: Ascension hatte etwa eine Trophäe namens "Bros Before Hos". Sie wird automatisch freigeschaltet, nachdem Kratos gemeinsam mit Orkos, Sohn von Ares, einen Furienangriff überlebt. Das gleichnamige Sprichwort, laut dem männliche Freunde wichtiger seien als Frauen, bezeichnet zweitere abwertend als "Huren" und betreibt damit Slutshaming. Nach einiger Kritik nannte Sony die Trophäe zumindest in "Bros Before Foes" um.
Achievements und Trophäen sollten keinen Freifahrtschein erhalten
Doch warum überhaupt die Kritik, sowohl an God of War als auch an den anderen Spielen? Achievements und Trophäen sind schließlich nur Belohnungen. Sie beeinflussen ihre Spiele nicht direkt. Einige sind sogar optional und versteckt, müssen also bewusst gesucht oder durch Experimentieren gefunden werden. Außerdem sind es ja nur Videospiele und keine echten Übergriffe.
Aber genau darin liegt der Grund. Gerade weil sie so unwichtig scheinen, ist Gleichgültigkeit einfach. Anstößige Namen und Beschreibungen bleiben dann unkommentiert; die entsprechenden Handlungen gelten weiterhin als belohnenswert.
Dass sie nur virtuell sind, ist irrelevant, weil Videospiele nicht im Vakuum entstehen. Jemand muss die Idee für einen Erfolg wie "Draufgänger" aus NieR: Replicant haben, ihn benennen, beschreiben, programmieren und anschließend absegnen. Das passiert nicht versehentlich.
So spiegeln Games schnell reale diskriminierende Gedanken wider. Soll Gaming ein inklusiver Raum für alle sein, darf die Kritik an solchen vermeintlichen Kleinigkeiten also nicht fehlen. Denn egal, wie harmlos man die Erfolge findet: Diskriminierung ist keine 15 Gamerscore Wert.
Dieser Artikel ist Teil unserer Held*innen-Themenwoche, die noch bis zum 8. August 2021 läuft und euch täglich spannende neue Artikel rund um das Thema Videospiel-Charaktere präsentiert. Alle Artikel der Held*innen-Themenwoche findet ihr hier in der Übersicht.
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