Maßgeschneiderte Held*innen, vollständig angepasst an die eigenen Vorlieben: Das ist ein Traum, der sich in Spielen immer häufiger verwirklichen lässt. Längst vorbei sind die Zeiten, in denen wir uns mit einer kleinen Auswahl von Statuswerten und Presets begnügen mussten.
Heutzutage gehört es gerade für Open-World-Rollenspiele und MMORPGs zum guten Ton, Spieler*innen wählen zu lassen, in wessen Haut sie die virtuelle Welt erkunden wollen. Als schwertschwingende Riesenkatze mit Flechtzöpfen? Als Scharfschütz*in mit grüner Haut und Clowns-Make-Up? Oder vielleicht als Abbild ihrer selbst? Alles kein Problem - zumindest in der Theorie.
Grenzen durch klassische, veraltete Ideale
Bei genauerer Betrachtung fällt auf, dass moderne Charakter-Editoren trotz ihrer Vielzahl an Schiebereglern, Hexadezimal-Codes und der Möglichkeit, Gesichter frei zu modellieren, schnell an ihre Grenzen stoßen. Nämlich dann, wenn man Figuren erstellen möchte, die nicht dem klassischen Held*innenideal entsprechen, das seit Jahrzehnten in den Medien kolportiert wird.
Dieses Ideal zeigt sich bereits beim Beginn des Erstellungsprozesses, denn in der Regel ist die erste auf dem Bildschirm erscheinende Figur eine männliche, schlanke und weiße. Durch die Darstellung dieser Charakteristika als "default" erfolgt eine Festschreibung bestimmter, eigentlich arbiträrer Merkmale als helden- und tugendhaft. Anders aussehende Körper werden von Anfang an als Abweichung vom Status Quo definiert.
Während jedoch manche solcher Abweichungen ausdrücklich vom System vorgesehen und von Anfang an mitgedacht werden, wirken andere aufgrund weniger Auswahlmöglichkeiten oder technischer Unzulänglichkeiten wie Nachsätze. Diese Nachsätze umfassen allzu oft nicht nur Details, sondern Grundlagen wie etwa die Wahl der Körperform und der Hautfarbe.
Grafik-Fehler in Editoren nehmen Freiheiten
People of Colour weisen bereits seit Jahren auf Mängel hin, die es ihnen deutlich erschweren oder unmöglich machen, sich selbst in ihren Lieblingsspielen repräsentiert zu sehen. Mal fehlt es schlicht an Optionen für dunkle Haut, mal können die vom Spiel genutzten Shader diese nicht korrekt darstellen, sodass Gesichtszüge verschwinden und die Detailarbeit am Charakter unmöglich gemacht wird. Und manchmal verschmilzt sogar der gesamte Körper mit einem für helle Haut optimierten, dunkelgrauen oder schwarzen Hintergrund, der sich nicht ändern lässt.
Selbst Die Sims 4 bot lange nur unzureichende Auswahlmöglichkeiten für Menschen mit dunklerer Haut an, obwohl es sich um eine Lebenssimulation handelt, in der die Erstellung vielfältiger Charaktere ein zentrales Element darstellt. In dem häufig als hochkomplex gelobten Editor wurden erst 2018 - ganze vier Jahre nach Release - einige Hauttöne und Frisurentypen ergänzt, um die Spieler*innen wiederholt gebeten hatten. Doch sie freuten sich zu früh: Viele der Hautfarben wirkten fahl, einige wiesen sogar Grafikfehler auf.
Diese wurden erst beseitigt, nachdem sich EA 2020 mit einer von 85.000 Menschen unterzeichneten Petition erneut zum Handeln aufgefordert sah. Bis dahin mussten sich Fans des Spiels mit Mods begnügen, die von engagierten Mitgliedern ihrer jeweiligen Communities zur Verfügung gestellt wurden - eine gängige Lösung, die allerdings nur PC-Nutzer*innen zugute kommt und bedeutet, dass marginalisierte Personengruppen sich ihre Repräsentation mit viel Mühe und ohne finanzielle Unterstützung selbst erarbeiten müssen.
Held*in und Körperfett – ein Widerspruch?
Noch komplexer wird es, wenn es nicht nur um Hauttöne, sondern die Körper selbst geht, denn hier kommt Modding schnell an seine Grenzen. Doch gerade bei Körperformen mangelt es allzu oft an Vielfalt, gerade für Frauen. Während Männer bisweilen kräftig, sogar dick erscheinen können, stoppen die Schieberegler bei ihren weiblichen Pendants deutlich früher und spiegeln so ein Schönheitsideal wider, das nur ganz bestimmte Körper als erstrebens- und begehrenswert markiert. Dieses Ideal zeichnet Heldenhaftigkeit und Körperfett als Widerspruch.
Welche Auswirkungen das potenziell auf die Selbstwahrnehmung von Gamer*innen und deren Spielgenuss haben kann, beschreibt Autor Kivan Bay in seinem Artikel "Fat Basement Dweller": "Diese dünnere Version von Kiva[n] zu spielen, erzeugte ein dysmorphes Gefühl; es fühlte sich an, als würde ich meinen Körper, mich selbst hassen."
Bay beschreibt in diesem Text seine Erfahrungen mit der Saints Row-Reihe, die sich eigentlich durch vielfältige Modifikationsmöglichkeiten und vor allem den gezielten Bruch mit Konventionen auszeichnet. So können die Avatare Make-Up, Bärte, Kleider und alle Frisurenstile tragen, unabhängig vom Geschlecht. Im zweiten Teil der Serie ist es zudem möglich, stark übergewichtige Figuren zu erstellen, doch schon mit dem Nachfolger wurde diese Option wieder gestrichen und vermittelt Menschen wie Bay so implizit: Ihr könnt keine Held*innen sein.
Diese Implikation ist etwas, das Menschen mit Behinderungen Zeit ihres Lebens begleitet. Angesichts dessen verwundert es nicht, dass gerade sie in Charaktereditoren keine für sich passenden Optionen finden. Selbst kosmetische Veränderungen wie Prothesen oder Hörgeräte, die sich leicht einbinden ließen, suchen wir vergebens. Lediglich deutlich erkennbare Narben sind gängig, seltener gibt es auch die Möglichkeit, einen Avatar mit trüben, blinden Augen auszustatten. Während es also in Spielen möglich ist, die absurdesten Fantasiewesen zu kreieren, bleibt ein erheblicher Teil der real existierenden Weltbevölkerung darin komplett unsichtbar.
Weniger Auswahl = weniger Spielspaß
Mangelnde Wahlmöglichkeiten bei der Charaktererstellung können zu mannigfaltigen Problemen führen, allen voran zu getrübtem Spielgenuss. Studien zeigen eine deutliche Korrelation zwischen der Identifikation mit einem Avatar und langfristiger, erhöhter Zufriedenheit beim spielen. Die optische Anpassung einer Figur an persönliche Vorlieben kann die emotionale Verbindung zu ihr stärken und so die Immersion in der Spielwelt fördern.
Genau deshalb erfreuen sich selbst simple kosmetische Add-Ons so großer Beliebtheit, dass Menschen dafür bereitwillig Geld zahlen: Kostüme und Accessoires verleihen Figuren einen Hauch von Individualität, die sorgfältige Auswahl dieser ästhetischen Details gibt den Spieler*innen ein Gefühl von "agency" - also Handlungsfähigkeit - das für das Spielerlebnis von Bedeutung ist. Diese Bedeutung fällt umso größer aus, je weniger mediale Repräsentation Angehörige einer Personengruppe im Alltag erleben. Während das Basteln von Figuren in Editoren für manche Menschen also einfach nur einen netten Zeitvertreib darstellt oder das Spielerlebnis zusätzlich positiv beeinflusst, ist es für andere die einzige Möglichkeit, sich selbst in einer tragenden Rolle in einem Spiel zu sehen.
Für die Gaming-Branche ergibt es aus ökonomischer Sicht Sinn, diese Form der Einbindung aktiv zu fördern. Nicht nur kann sie so die Spielerfahrung für die bestehenden Zielgruppen verbessern, sondern sich auch neue erschließen, indem sie diese gezielter anspricht. Und das muss gar nicht mit großem Aufwand verbunden sein: Selbst kleine Details können viel bedeuten, wie der Fall der Visual Novel Dream Daddy gezeigt hat. Deren simpler Editor erlaubt es Spieler*innen, ihrem Avatar einen sogenannten Binder anzuziehen - ein Oberteil, das Brüste abflacht - und somit in die Rolle eines trans Mannes zu schlüpfen. Dieses eine Grafik-Asset führte dazu, dass Developer Game Grumps einen Strom positiven Feedbacks speziell von Trans Männern erhielt, die sich erstmals in einem Spiel wiederfanden.
Letztendlich geht es insbesondere im Kontext von Rollenspielen und Lebenssimulationen ganz einfach darum, ein Werbeversprechen einzulösen: Und zwar jenes, dass die Spieler*innen sein können, wer und was sie wollen. Dass eine Industrie, die auf dem Versprechen unbegrenzter Fantasie und Möglichkeiten erbaut wurde, ausgerechnet bei der Charaktererstellung so enge Grenzen zieht, ist nicht plausibel und für viele Spieler*innen enorm frustrierend.
Zwar hat sich in den letzten Jahren einiges getan, wie etwa der Fall Animal Crossing zeigt, das im neuesten Ableger nun erstmals verschiedene Hautfarben zur Wahl und es Spieler*innen komplett frei stellt, welche Kleidung sie ihren Avataren anziehen möchten; doch solange erhebliche Teile der Spielerschaft kaum oder gar nicht repräsentiert werden, kann von einer echten Möglichkeitenvielfalt keine Rede sein.
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