Oktober 2013: Als Ubisoft den Veröffentlichungstermin von Watch Dogs nur wenige Wochen vor dem geplanten Release ins Frühjahr 2014 schiebt, hebt eine ganze Branche verblüfft die Augenbrauen. Schließlich läuft die Marketing-Maschine bereits auf Hochtouren, Anzeigen wurden geschaltet, Vorbestellungen entgegengenommen, das lukrative Weihnachtsgeschäft steht vor der Tür und zwei neue Konsolen in den Startlöchern. Verschiebungen sind in der Spiele-Industrie zwar keine Seltenheit, so kurz vor Release - und unter diesen Bedingungen - pfeifen Hersteller ihre Titel aber normalerweise nicht zurück. In der Luftfahrt würde man vom »Point of no Return« sprechen, jener Entscheidungsgeschwindigkeit, bei deren Überschreiten das Flugzeug auch dann abheben muss, wenn ein Triebwerk ausgefallen ist.
Ubisoft spielt die Verzögerung zwar herunter, man wolle lediglich noch am Feintuning arbeiten, heißt es in einem Statement, aber wie später durchsickern wird, steht Watch Dogs vor einem fundamentalen Problem: Die Entwickler haben zwar ein fertiges Spiel, aber seine Einzelteile fügen sich nicht zu einem komplexen, harmonischen Ganzen zusammen. Manche Missionen sind zu schwierig, andere zu einfach. Manche Spielelemente werden nur schlecht erklärt, andere überhaupt nicht - und wieder andere funktionieren in Kombination miteinander nicht.
Also zieht Ubisoft um fünf nach zwölf die Notbremse und gibt seinem Studio noch sechs Monate. Das spricht nicht zuletzt für die hohen Erwartungen, die der Publisher in die neue Marke setzt. 6,2 Millionen Exemplare hat Ubisoft seit 2007 vom ersten Assassin's Creed verkauft. Watch Dogs soll das übertreffen. Und im Gegensatz zu Assassin's Creed, das sein Potenzial erst mit dem zweiten Teil entfaltete, soll der erste Schuss diesmal auch spielerisch sitzen.
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Feature-Bombardement
Frühjahr 2014: Wir spielen mehrere Stunden lang eine fast fertige Version von Watch Dogs und sind erneut verblüfft. Zum einen, weil das Spiel seinen bislang noch blassen Helden ebenso schnell wie effektiv etabliert, eine greifbare Motivation für sein Handeln liefert und schon die erste Tutorial-Mission (bei der wir unter anderem den Strom in einem ausverkauften Baseball-Stadion ausknipsen) großartig inszeniert. Zum anderen, weil uns Watch Dogs nach dieser ersten Mission auf den Straßen von Chicago absetzt und genüsslich mit Features flächenbombardiert.
In den ersten 45 Spielminuten haben wir unter anderem: einen Imbiss ausgeraubt; einem guten Dutzend Passanten die Konten leergeräumt; etliche Dämonen über den Haufen gefahren; mehrere spektakuläre Verkehrsunfälle provoziert; drei von insgesamt 52 Hauptfähigkeiten freigeschaltet; zwei Verbrechen verhindert; mit einer mechanischen Riesenspinne rumgeballert; erstaunt festgestellt, dass manche Minispiele eigene Fähigkeitsbäume besitzen; ein Boot geklaut; noch erstaunter festgestellt, dass auch der Abschluss von Nebenaufträgen und -tätigkeiten neue Fähigkeiten freischaltet; uns überhaupt nicht mehr gewundert, dass Ubisoft massive Probleme hatte, diese »Featuritis« unter einen spielerischen Hut zu bekommen. Was wir nebenbei übrigens auch hatten: ziemlich viel Spaß damit. Aber bleiben wir zunächst beim eingangs erwähnten Helden.
Der besessene Hacker
Bis zu diesem Anspieltermin nämlich machte Protagonist Aiden Pearce keine sonderlich spannende, weil austauschbare Figur, seine Motive ließen die Entwickler lange im nebulösen Halbdunkel. Dabei hätte es die Geheimniskrämerei gar nicht gebraucht, denn schon das Intro und die ersten beiden Story-Missionen zeichnen einen vielleicht nicht originellen, aber allemal interessanten Charakter mit nachvollziehbaren Beweggründen.
Nachdem ein digitaler Raubzug in einem Nobelhotel gründlich in die Hose gegangen ist, setzen mysteriöse Auftraggeber einen Attentäter auf Aiden an. Der allerdings tötet nicht Aiden, sondern - versehentlich? - Aidens kleine Nichte. Von Schuldgefühlen zerfressen überwacht Aiden anschließend seine Schwester und seinen zehnjährigen Neffen mit pathologischer Besessenheit und versucht gleichzeitig, den Urheber des Attentats ausfindig zu machen.
Wer sich an dieser Stelle gespoilert fühlt, sei beruhigt: Mit all diesen Informationen fällt Watch Dogs bereits in den ersten Minuten ins Haus, sie bilden den Hintergrund einer Handlung, die wir selbstverständlich nicht verraten. Bloß so viel sei gesagt: Die Story nimmt erfreulich schnell Tempo auf, und dank der ausgezeichneten Dialoge gewinnen die Charaktere ein greifbares Profil. Mit wenigen Pinselstrichen entwerfen die Autoren eine glaubwürdige Familiendynamik und hauchen selbst den Nebenfiguren eine gewisse Tiefe ein. Freilich können wir noch nicht beurteilen, ob Watch Dogs das erzählerische Niveau über die komplette Spieldauer hält, der Auftakt allerdings ist überzeugend. Auch weil das Spiel sehr früh einen latent psychotischen Sidekick etabliert, dem wir aufrichtig gerne lauschen.
Der transparente Bürger
Der gute Eindruck setzt sich zunächst nahtlos im eigentlichen Spiel fort. Nach dem ersten Einsatz im Baseball-Stadion dürfen wir Chicago völlig frei erkunden, nahezu sämtliche Nebenbeschäftigungen und Minispiele stehen sofort zur Verfügung, vom langsamen Heranführen an einzelne Mechaniken hält Watch Dogs ausgesprochen wenig. Das empfinden wir beim akut grassierenden Tutorial-Wahn als sehr angenehm, im Gegensatz zu gewissen anderen Open-World-Titeln operiert Watch Dogs offenbar nicht unter der Prämisse, dass Spieler allenthalben ausgemachte Trottel sind. Bevor wir uns aber den ganzen Nebenkriegsschauplätzen widmen und erklären, wo Dämonen und mechanische Riesenspinnen eigentlich herkommen, müssen wir ein paar Worte über Aidens Smartphone verlieren.
Per Tastendruck schalten wir das nützliche Teil nämlich in den sogenannten Profiler-Modus, dann werden uns nicht nur nahegelegene Interaktionsobjekte wie Ampeln, Überwachungskameras oder Verkehrspoller angezeigt, die sich anschließend hacken lassen, sondern wir dürfen auch ausnahmslos jeden Passanten scannen und erhalten dabei Informationen über seinen Beruf, sein Einkommen sowie ein paar intime Details (etwa eine gewisse Vorliebe für gesellschaftlich vielleicht nicht unbedingt salonfähige Sexualpraktiken). Bei einem Teil der Passanten wird uns außerdem eine Hacking-Option angeboten: Mal ist das ihr Bankkonto, mal ein MP3-Song, mal ein neues Fahrzeug - und mal auch »nur« ein Telefongespräch oder eine SMS-Unterhaltung ohne spielerischen Nutzwert, aber mit teils sehr witzigen Dialogen.
Rund eine Stunde lang entfaltet Watch Dogs auf diese Weise ein wunderbar voyeuristisches Allmachtsgefühl. Alleine: Der Effekt nutzt sich rasend schnell wieder ab, irgendwann ertappen wir uns dabei, einfach unbesehen auf die Q-Taste zu hämmern und die ganzen vermeintlich interessanten Informationen kurzerhand zu ignorieren. Passant XY guckt also leidenschaftlich gerne japanische Animes? Uns doch wumpe, wenn die doofe Gans kein Bankkonto zum Plündern hat - oder wenigstens einen neuen Song für die Playlist.
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