Als die Nachricht über die Tamagotchi-Neuauflage zum 20. Jubiläum des Kult-Spielzeugs ins Haus flatterte, strahlte ich über beide Ohren. Mit zwei Jahrzehnten Verspätung sollte auch ich endlich die Chance bekommen, ein digitales Haustier großzuziehen. Damals hatte ich nie ein Tamagotchi - meinen Eltern reichte der Furby, der tagtäglich aus dem Kinderzimmer nach Aufmerksam plärrte.
Die Geschichte nahm ihre Lauf und ein in unschuldigem weiß erstrahlendes Plastik-Ei fand seinen Weg in die GamePro-Redaktion. Schnell einigten wir uns auf den Namen "Räudi", dessen Ursprung wir lieber unbeleuchtet lassen.
Das Leben von Räudi 1 sollte jedoch ein baldiges Ende finden. Das Timing, mit dem uns das Tamagotchi erreichte, hätte nämlich schlechter nicht sein können: Der GamePro-Redaktion jagten zig Releases und Events um die Ohren und sie hatte bereits Probleme, sich um sich selbst zu kümmern - geschweige denn um ein digitales Haustier. Aus unbekannten Gründen ließ Rae es sich aber dennoch nicht nehmen, das Tamagotchi gleich nach seiner Ankunft zu aktivieren. So piepte das virtuelle Monster vergebens nach Aufmerksamkeit, während die Redaktion im Arbeitsfluss gefangen war, bis es schließlich für immer verstummte.
Aber welch Glück, dass es den Reset-Knopf gibt! In einem Selbstversuch nahm ich das neue Ei an mich und brütete, hegte und pflegte was das Zeug hält. In einem Tamagotchi-Tagebuch habe ich meine Erfahrungen, Frust und Glücksmomente festgehalten.
Tag 1 - Wo ist der Lautlos-Knopf?
Heute erblickt das neue Redaktions-Tamagotchi endlich das Licht der Welt! Ich ignoriere den Geist von Räudi 1, der mich vorwurfsvoll durch das verpixelte Display anstarrt und drücke mit einer Haarnadel den Reset-Knopf. Mit diesem okkulten Wiederbelebungsritual beschwöre ich das Ei, dem Räudi 2 innewohnt. Etwa 30 Minuten später bricht das Monster piepsend durch die Schale. Der kleiner, runder Redaktions-Blob ist geboren!
Aus Reue über die unglücklichen Geschehnisse, durch die sein Bruder das Zeitliche gesegnet hat (Rae hat ihn in eine Schublade gesperrt und tagelang ignoriert), schwöre ich mir, gut auf Räudi 2 aufzupassen. Ich füttere den Knirps und reinige sein digitales Gefängnis von seinen Exkrementen.
Als ich den Knopf drücke, von dem ich vermute, dass er für das Spielen zuständig ist, passiert allerdings nichts. Statt ein Mini-Spiel zu starten, hüpft Räudi weiterhin schlichtweg ununterbrochen auf und ab. Ok, vielleicht hat er noch nicht genug Vertrauen zu mir und will später. Ich lege das Tamagotchi weg und konzentriere mich wieder auf meine Aufgaben.
Die anfängliche Euphorie vergeht, als Räudi alle 30 Minuten piept und meinen Arbeitsrhythmus pausenlos unterbricht. In dem sonst tendenziell ruhigen Büro fällt die nervtötende Geräuschkulisse negativ auf - ich habe meine Kollegen aber glücklicherweise vor dem Tamagotchi-Experiment vorgewarnt. Nichtsdestotrotz hat Räudi in der Redaktion schon nach wenigen Stunden mehr Feinde als Freunde.
Unweigerlich muss ich an die fürsorglichen Kinder und genervten Lehrer aus den 90ern und frühen 2000ern denken. Ich habe zumindest eine gute Ausrede für die nervigen Zwischenpiepser - meinen Selbstversuch - aber damals flogen wohl zuhauf Kinder samt quengelnder Tamagotchis hochkant aus dem Unterricht.
Tag 2 - Räudi digitiert zu … Powerlippe!
Der zweite Tag bringt eine Überraschung mit sich - Räudi entwickelt sich etwa 24 Stunden nach dem Schlüpfen. Mit blinkendem Bildschirm und fetziger 8-Bit-Fanfare wird Räudi zum jungen Erwachsenen.
Linda tauft Räudis neue Entwicklungsstufe liebevoll "Powerlippe". Trotz fortgeschrittenen Alters kann ich weiterhin nur auf einfachstem Wege mit dem Monster interagieren. Füttern und sauber machen, sauber machen und füttern. Zu nichts anderem ist das Tamagotchi gut - der Spaßfaktor hält sich in Grenzen. War das damals der perfide Plan der Entwickler? Kindern und Jugendlichen zu zeigen, dass Kinder und Jugendliche keine Freude, sondern nur Arbeit machen?
Tag 3 - Die Macht der Gewohnheit
Räudi nervt weniger, als in den letzten Tagen. Ich gewöhne mich wohl langsam an das verantwortungsvolle Leben als Tamagotchi-Mama. Wir werden zu einem eingespielten Team: Er piept seltener, ich füttere ihn präventiv. So können wir beide problemlos unserem Leben nachgehen.
In einem spontanen Geistesblitz erinnere ich mich aber plötzlich an etwas, das mir an Räudi fehlt. Als Knirpsin hatte ich mir einmal das Tamagotchi meiner Freundin ausgeliehen und für kurze Zeit gepflegt. Und damals gab es eine Art Mini-Spiel, bei dem das Monster abwechselnd nach links und rechts schaute und ich raten sollte, für welche Richtung es sich schließlich entscheiden würde. Offenbar waren meine Erinnerungen von damals aber an eine spätere Version von Tamagotchi gebunden. Die aktuelle Neuauflage ist nämlich eine exakte Kopie des allerersten Originals mit einer überschaubaren Auswahl an Funktionen - füttern und säubern.
Tag 4, 5, 6, 7 - Passiert noch etwas?
Die Tage vergehen und das "Spielen" mit Räudi wird immer monotoner. Je zufriedener er ist, desto langweiliger wird es. Immerhin nervt er nicht in der Redaktion. Ich füttere ihn, bevor er quengelt, sodass er sich gar nicht mehr zu Wort meldet. Er ist voll in meinen Alltag integriert, wie Zähneputzen. Es macht keinen Spaß, da muss ich aber täglich mehrmals durch. Ich frage mich, ob Powerlippe die letzte Entwicklungsstufe von Räudi ist. Das wäre mehr als enttäuschend.
Tag 8 - Die finale Entwicklungsstufe!
Nachdem ich die Hoffnung auf Veränderung beinahe aufgegeben hatte, passiert doch noch ein Wunder: Räudi überrascht mich mit einer spontanen Entwicklung! Seine neue Form ist allerdings ... ein alter Mann?
Ein wenig verstörend, wie schnell Räudi zu einem Greis geworden ist. Seine Entwicklung hat allerdings keine neuen Funktionen freigeschaltet.
Aus Neugier, ob Räudi bereits die finale Entwicklungsstufe erreicht hat, googelt Max ein wenig und stößt auf eine witzige Erklärung auf Tamagotchi.de, die alle Formen und Entwicklungsstufen des Original-Spielzeugs zeigt. Wie sich herausstellt, heißt unser Tamagotchi eigentlich Oyahitchi und ist nicht nur ein voll entwickelter Geheimcharakter, sondern auch noch ein ehrenwerter Samurai! Meine Mühen haben sich ausgezahlt!
Tag X - Das Ende einer wunderbaren Freundschaft
Einige Tage ziehen ins Land, an denen der gealterte Räudi und ich weiterhin ein symbiotisches (oder besser: ein parasitäres) Verhältnis führen. Aber irgendwann reicht es mir und ich übergebe Räudi in die Obhut unserer Social Media Managerin Lea. Kurz darauf segnet Räudi schließlich das Zeitliche, nachdem er sich - laut Lea - eine fiese Krankheit eingefangen hat. Social Media-Kollege Dennis formuliert auf Instagram ein emotionales Abschiedsgedicht, das ich euch an dieser Stelle nicht vorenthalten möchte.
"Es war so schön, jetzt ist's so weit. Klein Räudi ist vom Leid befreit. Glücklich, munter er einst war, doch ihr wisst was dann geschah. Nasti gab ihr Kindlein ab, denn sie war zu sehr auf Trab. In Leas Obhut er so fiel, doch das war kein guter Deal. Seine klagenden Laute, ich sag's frei raus, klangen in die Nacht hinaus. [...] Ja da war's um ihn geschehn, nie wieder werden wir ihn sehn. Ein letzter Gruß ist was uns bleibt. Es war so schön, so schön die Zeit."
In diesem Sinne: Danke, Räudi, für die gemeinsame Woche! Natürlich hatten wir unsere Höhen und Tiefen, aber du hast mich einiges gelehrt. Vor allem, dass ich in nächster Zeit keine Verantwortung mehr für Lebewesen jeder Art übernehmen möchte - egal, ob digital oder analog.
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