Dass die allererste Quest der Hauptstory von The Elder Scrolls 5: Skyrim den Titel »Entfesselt« trägt, grenzt an Ironie: Als Gefangener werden wir zu Beginn des RPGs auf einer schäbigen Kutsche zu unserer Hinrichtung nach Helgen gekarrt, bis ein unverhoffter Drachenangriff unsere Fesseln sprengt und das Tor zum großen weiten Himmelsrand öffnet. Kein Zufall, sondern Prophezeiung. Wir sind das letzte Drachenblut, der Dovahkiin. Alduin, jener Drache, der als dramaturgisches Instrument zur Öffnung der Spielwelt dient, droht gleichzeitig, sie zu zerstören. Nur unsere Kunst des Thu'um kann ihn aufhalten und das Chaos verhindern.
Nach dem Angriff Alduins und dem Durchqueren des unterirdischen Komplexes der Festung sind wir in der Tat frei. Der hohe Norden Tamriels steht uns nach dem Prolog nahezu komplett offen und doch will uns Skyrim mit seinem Hauptstrang fest an einen geradlinigen, vorbestimmten Pfad binden, auf dem wir durch Himmelsrand schreiten sollen. Aber nicht Skyrims Geschichte um die Wiederkehr Alduins und die Erstarkung des Dovahkiins bildet den entscheidenden Faktor für ein unvergessliches Abenteuer. Die Provinz Himmelsrand mit ihren unzähligen entdeckungswürdigen Orten und interessanten Gruppierungen ist für mich der wahre Grund, in diese Welt hinauszuziehen.
Gefesselt
Als ich vor fünf Jahren das erste Mal vor den Pforten Himmelsrands stand, ließ ich mich zunächst sehr wohl auf mein mir auferlegtes Schicksal ein: Ich begann das Spiel als breitgewachsener Nord, aus Eis geschmiedet und treu begleitet von einem stählernen Zweihänder. Mit Scheuklappen und eiserner Sturheit wanderte ich durch die ersten Orte Himmelsrands und arbeitete ausschließlich die Aufgaben der Haupthandlung ab, fast so als würde ich noch immer im gleichen Karren sitzen, der mich im Intro ohne Zwischenhalt nach Helgen kutschiert. Doch Himmelsrand weckte einen Erkundungsdrang, der so sehr an den Riemen meiner Eisenrüstung zerrte, dass ich mich irgendwann nicht mehr gegen ihn wehren konnte und letztendlich doch vom Weg des Dovahkiins abwich. Welches Schicksal ihm am Ende seiner Reise blüht, erfuhr ich nie. Ein Glück. Sonst wäre mein rund 200 Spielstunden langer Aufenthalt in der verschneiten Provinz nicht einmal annähernd so aufregend gewesen.
Linda Sprenger (@lindalomaniac):
Offene Spielwelten und mitreißende Hauptgeschichten müssen keinen unauflöslichen Gegensatz bilden, wie das Beispiel von The Witcher 3 zeigt. Bethesda-Rollenspiele wie Skyrim, Oblivion oder Fallout 3 indes leben einzig und allein von ihrer lebendigen, authentischen Spielwelt und der Freiheit, die sie gewährt. Linda, die sich vor dem eigentlichen Spiel ausgefeilte Biografien für ihre Spielfigur zurechtlegt und gerne einmal einen ganzen Abend im Charakter-Editor verbringt, empfindet eine Hauptgeschichte und ein vorbestimmtes Schicksal für ihren Helden daher als störend.
Skyrim ist ein »Abenteuerspielplatz«, wie Kollege Chris schreibt. Zum Leben erweckt von Mythen, Bräuchen und Göttern. Übersät von Dungeons, von denen nahezu jeder kostbare Schätze verspricht. Weißlauf, Einsamkeit, Winterfeste, Falkenring. Schwarzweite, der Feuerschleierhügel, das Ödsturzhügelgrab. Jeder Ort auf der Karte ist es wert, besucht zu werden. Die Daedra-Quest »Eine denkwürdige Nacht«, in der wir uns nach einem Saufgelage am nächsten Tag plötzlich in einem Tempel in Markarth aufwachen und anschließend das Geheimnis der letzten Nacht lüften müssen, ist nur eine von vielen interessanten Nebenquests, die die Hauptgeschichte zweitrangig machen können.
Hinzu kommen Gruppierungen wie die Akademie von Winterfeste oder die Diebesgilde, die nicht nur ebenfalls interessante Nebenaufgaben bieten, sondern unseren Charakter obendrein ausformen: Als ich den mysteriösen Brief mit der schwarzen Hand erhielt, dauerte es nicht lange, bis ich mich in der Zuflucht der Dunklen Bruderschaft wiederfand und Morde zu Ehren des Gottes Sithis verrichtete. Ich legte meinen schweren Eisenharnisch ab und streifte mir stattdessen die Schattenrüstung über. Ich war nicht länger wuchtiger Schwertkämpfer sondern ein listiger Assassine, der sich nunmehr auf seine Stealth-Fähigkeit verlässt.
Erzählerische Mangel
Skyrim macht uns zum Teil einer »Schöpfungsgeschichte«, so schreibt es Chris in seinem bereits zitierten Artikel über die Faszination von Skyrim. Eine zentrale Questreihe hingegen begrenzt vielmehr meine Möglichkeiten, als dass sie mich von unserer Freiheit Gebrauch machen lässt. Auch Fallout 4 zeigt, wie einengend eine Hauptstory im Korsett eines Rollenspiels von Bethesda ist: Im Unterschied zu seinen Vorgängern legt das aktuelle Endzeit-RPG des Entwicklers den Fokus auf einen Plot, der uns emotional fesseln soll: Als letzter Überlebender aus Vault 111 begeben wir uns im Commonwealth auf die Suche nach unserem entführten Sohn. Egal ob wir uns dafür entscheiden, als schonungsloses Raubein oder gutmütiger Überredungskünstler durchs Ödland wandern, wir sind zu jeder Zeit auch verzweifelte Mutter oder verzweifelter Vater mit einem früheren Leben aus der Sanctuary-Siedlung.
Die Spielmechanik von Fallout 4 gibt uns unzählige Möglichkeiten, unseren Charakter nach eigenem Gusto zu formen; gleichzeitig werden wir durch die Story immer wieder in die Rolle des verzweifelten Elternteils gedrückt. Auf das aus Fallout 3 bekannte Karma-System und spezifische Nebenquests, die uns irgendwann entweder zum Messias oder zur Geißel des Ödlands machen, verzichtet Fallout 4 indes und streicht damit eine wesentliche Option zur Ausformung unserer Spielfigur.
Vorhang auf und Bühne frei
In CD Projekt REDs Rollenspiel The Witcher 3 wiederum funktioniert der primäre Handlungsstrang inmitten einer Open World sehr gut. Denn mit Geralt setzen uns die Entwickler einen bereits vor Spielbeginn vollständig ausgearbeiteten Helden vor. Er, Ciri, Yennefer, Rittersporn und die vielen anderen Charaktere sind Romanfiguren des Schriftstellers Andrzej Sapkowski, an deren Reise wir teilhaben. Wir entscheiden nicht frei darüber, in wessen Rolle wir schlüpfen. Wir sind Geralt von Riva, und wir müssen uns von Anfang an damit abfinden, seinen bereits bestimmten Weg zu gehen. Auch The Witcher 3 lenkte mich mit unzähligen Nebenquests immer wieder von Geralts verzweifelter Suche nach Ciri ab. Jene mitreißende Vater-Tochter-Geschichte ist es aber auch, die mich während meines Abenteuers regelmäßig auf den Hauptweg zurückholte, eben weil die involvierten Figuren nicht nur bereits vollständig ausgearbeitet und daher emotional leichter zu greifen sind, sondern auch weil sie mit entsprechenden filmischen Mitteln in Szene gesetzt werden.
In The Witcher 3 definiert allein die Handlung unsere Spielfigur. Während Bethesda mit Fallout 4 versucht, den Protagonisten in erster Linie ebenso durch eine zentrale Erzählung zu charakterisieren, bestimmen andere Faktoren die Charakteristika unserer Helden aus Skyrim und anderen Bethesda-RPGs: Sie werden nicht nur durch die Spielmechanik definiert (Merkmale wie die Optik oder anfängliche Werte bestimmen wir selbst) sondern auch und vor allem durch die Abenteuer, die wir in der Spielwelt erleben, und die Geschichten, die wir uns selbst für unseren Charakter zurechtlegen können.
Eine Welt wie Himmelsrand fungiert als Bühne: Sie liefert die Kulisse, Utensilien und Nebenfiguren. Den Ablauf des Spiels und welche Rolle wir als Held (oder Schuft) darin spielen wollen, lege ich als Regisseurin und Darstellerin selbst fest. Das ist die unbestreitbare Quintessenz eines Bethesda-RPGs wie Skyrim, Oblivion oder Fallout 3, die durch einen vorgefertigter Weg für unseren Charakter jedoch ad absurdum geführt wird. Eine Hauptgeschichte ist obsolet, wenn mir doch gleichzeitig eine Welt offen steht, in der ich tun kann, was ich will, und sein kann, wer ich will.
Entfesselt
Nach fünf Jahren stehe ich mit Skyrim: Special Edition nun erneut mit dem Rücken zum Ausgang der Helgen-Festung. Und während ich auf die Bergkette blicke, die sich so majestätisch vor mir erstreckt, dass ich am liebsten vor ihr niederknien möchte, durchströmt mich der Ruf des Abenteuers wie ein wuchtiger Drachenschrei: Genau dort möchte ich hin. Auf die verschneite Spitze des Berges vor mir und zu den Städten, Schreinen, Höhlen und Diebesverstecken dahinter. Die Wiederkehr Alduins, der Weg der Stimme und das Wissen der Alten sind allerdings die Angelegenheiten des Dovahkiins, nicht meine eigenen.
Ich bin kein Drachenblut, stehe nicht im Mittelpunkt der Welt und eigne mich schon gar nicht als ihre Retterin. Ich bin Entdeckerin, Vagabundin und nicht immer tugendhafte Überlebenskünstlerin. Ich bin wortkarg, leicht kleptomanisch und gut mit dem Bogen. Als aus Cyrodiil Verbannte, die in Himmelsrand ihr Glück in Tavernen und an Anschlagtafeln sucht, fange ich in den rauen Gefilden des hohen Nordens ein neues Leben an. Vielleicht trete ich der Diebesgilde bei. Vielleicht befreie ich einige Siedlungen von der Tyrannei benachbarter Banditenbanden. Vielleicht aber schlage ich einen ganz anderen Weg ein und beschäftige mich der Arkanen Schule, die mich irgendwann zu einer mächtigen Magierin macht. Meine Bestimmung besteht nicht darin, dass bärtige Kuttenträger meinen Namen irgendwann in einem 1000-seitigen Folianten verewigen. Stattdessen schreibe ich meine Geschichte selbst.
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