Der Sommer und ich führen eine schwierige Beziehung. Einerseits genieße ich das Gefühl, wenn die Sonne zum ersten Mal nach langer Zeit wieder auf der Haut kribbelt. Andererseits will ich mich am liebsten unter einer dicken Schneedecke vergraben, sobald sich das Thermometer in Richtung der 40 Grad-Marke streckt, U-Bahn-Fahrten zu Saunabesuchen verkommen und die Hitze gegen die Schläfen drückt.
Doch so sehr ich mit mir ringe, kann ich dem Sommer diese Unannehmlichkeiten nie so richtig übel nehmen. Denn er erinnert mich jedes Jahr aufs Neue an die fast unendliche Geschichte, die ich mit GTA: Vice City verbinde.
Was ist "Mein Herz für Klassiker"?
In diesem wöchentlichen Format stellt euch die GamePro-Redaktion abwechselnd ein Spiel vor, das mindestens zehn Jahre ist und erklärt euch, warum es sich dabei aus unserer persönlichen Sicht (!) um einen Klassiker handelt. Mal ist es das Gameplay, das seiner Zeit voraus war, mal eine Story, die nie an Relevanz verloren hat oder einfach nur ein Spielelement, das uns nicht mehr aus dem Kopf geht.
Grant Theft Auto: Vice City erschien 2002 für die PlayStation 2 - zu einer Zeit, als meine Freunde und ich so gut wie nur am PC spielten. Unsere Eltern sahen in Konsolen schlicht mehrere hundert Euro teure Spielsachen, auf einer Stufe mit einem Matchbox-Auto oder der Beilage eines YPS-Hefts. Eigene Computer bekamen wir hingegen, nachdem wir mehrfach betont hatten, wie dringend wir solche Geräte für die Schule bräuchten. Wozu denn auch sonst, wenn nicht für Powerpoint-Präsentationen und Co.?
So musste ich mir bis auf weiteres ausmalen, welche Abenteuer mich in Vice City erwarten würden, als die Euphorie aus ersten Heftreviews auf mich überschwappte. Wie würde es wohl sein, als Kleinganove Tommy Vercetti zum Paten der sonnendurchfluteten 80er-Jahre-Metropole aufzusteigen? Wie abwechslungsreich würden die Missionen wirklich ausfallen? Und wie würde sie sich anfühlen, diese Atmosphäre, die eine so offene wie lebendige Welt durchdringen sollte? Mit jeder umgeblätterten Heftseite gewannen diese Fragen an Dringlichkeit. Ich brauchte Antworten, und zwar jetzt. Dabei war meine Geduld sogar noch nach dem Release der PC-Version im Mai 2003 gefragt.
Anfang der 2000er griff die sogenannte "Killerspiel-Debatte" in weiten Teilen der Öffentlichkeit um sich. Als Reaktion auf den Amoklauf von Erfurt pochten verschiedene Politiker auf ein Verbot gewalthaltiger Videospiele, eigentlich renommierte Medienvertreter wie die FAZ oder Frontal 21 stimmten in die Forderung mit ein, indem sie beispielsweise den Multiplayer-Shooter Counter-Strike zum Amoklaufsimulator verzerrten. Im Spiel schlachte man Schulmädchen ab, hieß es da etwa. Daher wollten meine Eltern natürlich einen umso genaueren Blick auf die Dinge werfen, die mich teils nächtelang wachhielten. Und das bedeutete eben, dass ich mir GTA: Vice City nicht kaufen durfte. Zumindest vorerst.
Wie schon beim eigenen PC musste ich erneut auf mein diplomatisches Geschick setzen. Zum Glück rotierte die Disc von GTA: Vice City pünktlich zu den Sommerferien im Laufwerk eines Freundes, sodass ich immerhin heimlich reinspicken konnte. Meine so gewonnenen Eindrücke halfen mir dabei, meine Eltern von dem Spiel zu überzeugen, von dem ich offiziell bloß gelesen haben wollte.
Saßen wir abends beim Grillen zusammen, stupste ich das Gespräch auf eine - wie ich damals fand - sehr umsichtige Art in die Richtung von Vice City. Aus heiterem Himmel brach ein Schwall an Lobeshymnen über meine Eltern herein, in denen ich die Vielfältigkeit des Spiels hervorhob: Ich würde als Aushilfspolizist oder Sanitäter mein erstes Geld verdienen, später zum Unternehmer samt eigener Eiscremefabrik aufsteigen.
Hierbei handelt es sich allerdings um die hauptsächlich optionale, mit Nebenaufgaben und Geheimnissen gespickte Seite von Vice City. Die andere besteht zum Beispiel darin, eine Bank auszurauben oder eine völlig zugedröhnte Rockband durch den Großstadtverkehr zu manövrieren, während die versucht, eine Bombe in ihrer Limousine zu entschärfen. Aber diesen Teil ließ ich lieber aus. Mein Schweigen sollte sich auszahlen.
Nach langen Gesprächen durfte ich mein Taschengeld endlich zusammenklauben, um es mit vor Freude bebenden Fingern über eine Ladentheke zu schieben. Vice City stand mir offen, meinem Weg an die Spitze der Unterwelt nichts mehr im Weg. Und da sich draußen gerade eine Hitzewelle anbahnte, wollte ich erst recht nicht mehr umkehren. Daran änderte sich auch Stunden, Tage und sogar Wochen später nichts. Ich konnte einfach nicht genug davon bekommen, zu Broken Wings von Mr. Mister in den Sonnenuntergang zu gleiten oder im Sportwagen über die Strandpromenade fahren, bis die Neonreklame um mich herum ineinanderrauschte.
So häuften sich in nahezu jeder Straßenecke Erinnerungen an, die mich noch immer jeden Sommer nach Vice City zurücklocken und mich darüber hinwegsehen lassen, dass sich das Thermometer in Richtung der 40 Grad-Marke streckt, U-Bahn-Fahrten zu Saunabesuchen verkommen und die Hitze gegen die Schläfen drückt.
Dieser Artikel erschien am 5. Juli 2016 zuerst auf gamespilot.de und wurde für die Neuveröffentlichung überarbeitet.
Welche Erinnerungen verbindet ihr mit GTA: Vice City?
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